GRIMA (2022)

Graues Fell, gelb-braune Augen, scharfkantige Reißzähne- nur wenige haben ihn jemals in freier Wildbahn zu Gesicht bekommen: den Wolf. Doch wo er auftaucht verspüren die meisten Menschen ein diffuses Unbehagen. Doch woher kommt und nährt sich diese vage Furcht?

Unsere Vorfahren aus der Altsteinzeit zogen als Jäger und Sammler durch die Welt. Wie die Menschen gingen auch die Wölfe in Gruppen auf die Jagd und galten ihnen als spirituelles Vorbild. Seite an Seite lebten Menschen und Wölfe in der gleichen biologische Nische. Ihre Koexistenz brachte sogar den Hund hervor, den treusten Wegbegleiter der Menschen. Forscher*innen vermuten, dass das Verhältnis der einstigen Nachbarn während der Jungsteinzeit gekippt ist. Durch den Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen begann der Mensch sesshaft zu werden und Vieh auf wenig Raum zu halten. Eine überaus leichte Beute für Isegrim.

Seither drehen sich so viele Mythen und Märchen um den grauen Beutegreifer wie um kaum ein anderes Tier. Viele Kulturen verehrten den Wolf für Attribute wie Kraft, Mut und Familiensinn. In der altnordischen Mythologie werden mit dem Wolf vorwiegend düstere Attribute verbunden. Der Wolf „Sköll“ verfolgt die Sonne, die vor ihm flieht und sein Bruder „Hati“ rennt vor ihr her und verfolgt den Mond. Was zunächst durchaus bösartig und bedrohlich klingen mag, impliziert doch eine Notwenigkeit, denn ohne sie gebe es in der Mythologie weder den Lauf der Zeit, noch Tag und Nacht. Mit dem Aufkommen des Christentums kam ein neues Schreckensbild in die geistige Welt der Menschen. Nun sei der Teufel selbst der Schöpfer des Wolfes und damit Sinnbild des Bösen, so glaubte man vor allem in Skandinavien, Osteuropa und Russland. Aus Mythen wurden Märchen. Durch die Schriften der Gebrüder Grimm verfestigte sich das Bild des bösen und hinterlistigen Waldbewohners. „Rotkäppchen“ und „die sieben Geißlein“ sind wohl die berühmtesten Beispiele, die von ihm reingelegt und bedroht wurden.

Dieses tief kulturell-verwurzelte Tier weckt in vielen von uns bis heute eine ambivalente Faszination. Seit 2000 ist der Wolf auch wieder in Deutschlands Wäldern heimisch. Und auch, wenn die meisten niemals einem Wolf begegnen werden, so bleibt bei vielen doch häufig eine nicht-greifbare, nebelhafte Angst vor diesem mystischen Wesen, wenn sie Wolfsgebiet betreten.

* Das Wort „Isegrim“ kann aus „îsen“ – ‚Eisen‘ und „grînen“ – ‚knurren‘ abgeleitet werden. Allerdings kann der Name auch aus „grima“ – ‚Helm‘, ‚Maske‘, ‚Gesicht‘ abgeleitet werden und bedeutet damit Graugesicht oder Eisenmaske und stellt eine Kenning für den Wolf dar. Im Spanischen bedeutet das Wort „grima“ – „Unbehagen“, „Grauen“ oder „eine intensive Angst“.